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Loveparade Duisburg - Chronik einer Katastrophe im Video

Kurz nach der Katastrophe waren bereits zahlreiche Augenzeugen-Videos auf You Tube verfügbar. Wir waren empört darüber, dass Schilderungen in der Öffentlichkeit im krassen Gegensatz zu dem stehen, was jeder hier selbst mit eigenen Augen sehen kann, und entschlossen uns dazu, die Popularität von Ruhrlink zu nutzen, um dies anschaulich zu machen.

Es nicht einfach, in dem Wust von mitgeschnittenen TV Sendungen und musikunterlegten Trauerbekundungen aufschlussreiches aufzufinden. Ruhrlink hat sich durch das Material gearbeitet und stellt hier eine Videosammlung zur Verfügung, die Aufschluss geben kann. Die Bilder sind zum Teil extrem schockierend, lassen aber wenig Spielraum für Interpretationen.

Es gab noch Platz
Das Video von funka84 zeigt den Blick vom Gelände herunter auf die Menschenmenge, gedreht oberhalb der schmalen Treppe, um die herum später die meisten der Opfer gefunden wurden. Interessant hier hier der Schwenk zum Gelände, ab Sekunde 8 bis etwa zu Sekunde 15.

Der Film von nope030 zeigt die gleiche Situation. Es lässt sich unschwer erkennen, das auf dem Weg noch viel Freiraum vorhanden ist. Mehrere Videos dokumentieren das. Das war aber nur aus erhöhter Position wahrzunehmen.

Unterhalb der Treppe stossen die Kommenden und die Gehenden aufeinander, es kommt zum Stau. Schon hier kündigt sich an, wie bedrängt die Situation in diesem Bereich wurde. In der Menge erkennt man immer wieder einzelne Gesichter, die die Treppe offensichtlich aus Ausweg erkannt haben und darauf zustreben. Wie Wellen verbreiten sich Stösse durch die Menge, wie bei Sekunde 1:42.

Die Situation spitzt sich zu
Im Video von MsRedfly spitzt sich die Situation zu. In Wellenbewegungen werden die Menschen gedrängt, eine Bewusstlose wird auf die Treppe gezogen.

Übereinander
Im Video von BStadtFilms scheint das Gedränge selbst in der Nähe der Treppe etwas lockerer. Nimmt man den Treppenbereich aus, wirkt die Situation nicht einmal sonderlich bedrohlich. Ab Sekunde 1:07 schockieren dann aber zwei Männer, die ganz offensichtlich über Gestürzte hinweg steigen, um zur Treppe zu gelangen. Die Katastrophe ist in vollem Gang.

Auch auf dem Video von tr1nd ist ab 1:28 Sekunde die Rücksichtslosigkeit zu sehen, mit der versucht wird, über die Menge hinweg die Treppe zu erreichen.

Das Desaster


Das Video von Marcel erlaubt schliesslich den genausten Einblick. Nichts ahnend von der Katastrophe, die sich unmittelbar vor ihm abspielte, filmte der Besucher das Geschehen und entdeckte erst später, welche Bedeutung dies Material überhaupt hat. Nahe der Brücke war die Situation weniger bedrohlich, teilweise verlassen Besucher das Gelände. Weiter vorn scheint es aber sehr eng zu werden, Treppe, Container und Masten erscheinen wie Schlupflöcher aus der stehenden Masse. Ein Polizistin sorgt oben auf der Treppe dafür, dass der Weg frei gemacht wird. Zum Container wird von oben eine Leiter gereicht, lt. Berichten ebenfalls von Polizisten. Niemand scheint zu erkennen, wie gefährlich es mittlerweile an der Treppe geworden ist. Ordner ziehen Personen aus der Menge auf den Container. An der Treppe wird es immer schlimmer, Menschen taumeln hinauf. Erste stürzen. Ab 4:58 wird das ganz Ausmass sichtbar. Offensichtlich über gestürzte Leiber hinweg "robben" mehrere Männer auf die Treppe zu. Schuhe sind zu sehen, ein Knäuel von Leibern. Die Katastrophe geschieht.
Interview mit Marcel, der dieses Video drehte.

Es endet
Die Videos von rkjorge70 schildern den weiteren Ablauf.


Das Menschenknäuel


Die Polizei rückt an und weist den Weg zum Gelände (von User Loveparade Duisburg). Es fällt auf, wie schnell die Räumung gelingt.


Um die Treppe herum sieht man einfach nur eine Sammlung von ineinander verkeilten Gliedmassen.
Während die Feuerwehr schon bei der Arbeit ist, wird das Knauel noch immer nicht aufgelöst.


Der Platz ist frei.

Interpetation der Filme

In den Videos ist gut zu sehen, wie viel Freiraum auf beiden Seiten noch bestand. Immer wieder wird in der Diskussion darauf hingewiesen, dass das Gelände für die Anzahl der Besucher zu klein war. Mit diesem Argument sollen Planungsfehler bewiesen werden. Dies ist aber nicht die Ursache der Katastrophe und schlichte Polemik.

Der tatsächliche Planungsfehler ist offensichtlich: Die gleichzeitige Nutzung der Rampe für die Zukommenden wie für die Abgehenden. Für beides war zu wenig Platz. Menschen haben das Bedürfnis, ihr Ziel zu erreichen. Die die zur Party wollten, strebten dort hin, und andere wollten den Platz schlicht verlassen. Die Enge war schleichend und die Gefahr als solches nicht zu erkennen. Unvermittelt steckten die Besucher in einer Menge fest, in der es enger und enger wurde. Es war heiss, es wurde geschoben und gedrängelt, aber es gab keinen Ausweg.
Wer bei der Essener Parade war oder schon einmal auf einem Konzert, kennt es, "in der Menge zu stecken". Diese war hier keinesfalls aussergewöhnlich oder wirkte so. Auf den Videos sieht man zeitweise Menschen scherzen.

Essen zeigte aber auch, das sich diese Spannung "entladen" können muss. Hier waren links und rechts hohe Betonwände, von vorn und hinten drängten die Menschen in zwei Richtungen gegeneinander. Für alle über den Köpfen sichtbar: Der Ausweg über Container, Masten und eben die kleine Betontreppe.

Der zweite Planungsfehler war, die vermeintlichen Fluchtwege aus der Enge nicht ausreichend zu sichern. Manche hatten vielleicht den Eindruck, dass Zu- und Abgänge gesperrt und sie "eingesperrt" sein. Der Wunsch, aus dieser bedrückenden Situation zu entkommen, ist verständlich. Der "Ausweg" war für jedermann über den Köpfen sichtbar, und er wurde genutzt.

Der Faktor Mensch ist unberechenbar. Wenn sich auch in den You Tube Videos viele Beispiele von helfenden finden, so zeigen sie doch auch den ganzen Abgrund der menschlichen Seele: Mit zunehmender Rücksichtslosigkeit wird versucht, den rettenden Ausweg Treppe zu erreichen, buchstäblich gehen Menschen hier über Leichen. Aber auch hier gilt es darüber nachzudenken, wie diese Situationen zustande kamen. Zurück in die Menge konnte niemand mehr, dort war schlicht kein Platz. Es gab nur den Weg nach vorn, zur Treppe.

Fazit: Es gibt das Zitat eines Sicherheitsexperten, dass die Treppe hätte gesprengt werden müssen. Es gibt Bilder einer Absicherung dieser Treppe. Dass das offensichtlich nicht ausgereicht hat, ist mehr als deutlich.

Die Verantwortlichen dafür zu finden, ist nun Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Darum ist niemand zu beneiden. Man kann davon ausgehen, das niemand dieses Ergebnis absichtlich herbeigeführt hat, letztendlich sollte hier eine schöne Party stattfinden. Der Job von Experten ist es, die Bilder, die wir gesehen haben, vorauszusehen. Solche Experten kamen hier offensichtlich nicht zu Wort. Es gab Bedenken, doch hier sollte ein Ziel erreicht werden, so wie die Menschen an diesem Tag jeweils entgegengesetzt einem Ziel zustrebten, das für sie in diesem Moment die Hauptsache war. Menschen funktionieren wie auf Gleisen. Die Veranstaltung wurde von einer Gruppe geplant, die ein Ziel hatte. Experten hätten das vielleicht vorausgesehen, hier jedoch waren Amateure am Werk..

Die You Tube Videos sind das Dokument einer Katastrophe. Einige, die noch schlimmeres zeigen, haben wir bewußt nicht aufgenommen.

Der "Hexenjagd" nach Schuldigen möchten wir nicht folgen, dazu ist der Anlass zu tragisch und viele Äußerungen sind nach der Betrachtung dieses Materials viel zu dumm. Bedenkenträger haben sich zuvor gemeldet, sind aber nicht gehört worden. Die Medien haben begeistert über diese "tolle" Party berichtet und sind nun eifrig bemüht, im Sinne des Volkszorns Schuldige zu ermitteln. Dieser "Volkszorn" findet sich auch im Web, diverse Aktionen, z.B. die "wahre" Besucherzahl zu ermitteln, sollen aufklären, tragen aber zu Ermittlung der tatsächlichen Ursachen nichts bei.

Viele Situationen in den Videos wirken gar nicht so sonderlich bedrohlich. Ohne zu Wissen, was tatsächlich geschah, war die Gefahr nicht unbedingt ersichtlich. Letztendlich haben viele schlicht gar nicht bemerkt, was direkt neben ihnen passierte. Und andere haben es nicht vorausgesehen.

Das Material ist jedem öffentlich zugänglich und jeder kann sich selbst eine Meinung über Hergang und Ursache des Geschehens machen.

Pizzamanne

Ein weiteres Dokument auf You Tube zeigt die Ereignisse in einer subjektiven Weise, die schon fast nicht zumutbar ist. Der User "Pizzamanne" hat das Unvorstellbare fast beiläufig mit seiner Kamera dokumentiert. Es zeigt minutiös den Ablauf, angefangen von der Hinfahrt bis zu den Momenten in denen er selbst in dem Pulk der gestürzten Menschen eingeschlossen ist. Pizzamanne behält seine Kamera einfach in der Hand, und das gibt diesen Filmen ihre schockierende Präsenz. Die Schreie der Eingeschlossenen erzeugen eine albtraumhafte Wirkung.

Dieser Pizzamanne, der seinen richtigen Namen nicht nennt, ist ein Kerl, den jeder gern an seiner Seite sehen würde. Schon von Beginn an sieht man, wie er sich um andere kümmert, Bedrängten seine Wasserflasche anbietet, bis zu den Szenen am Schluss, wo inmitten des Chaos unscharfer Bilder seine beruhigende Stimme zu hören ist. Durch seine Videos ist er gleichzeitig auch selbst zu einem Vorbild geworden. In einer solchen Notsituation bleibt er hilfsbereit und glaubwürdig. Diese Einstellung ist von Beginn an, als noch ein spassiges Partyvideo gedreht wird, erkennbar. Dies spiegelt sich auch in den User Kommentaren auf You Tube wieder. Inmitten des rücksichtslosen Kampfes ums Überleben behält er seine Menschlichkeit und wird so unfreiwillig zu einem modernen Helden. Zeitweise zeigt sich der Student von dieser Rolle verwirrt und nahm seine Videos aus dem Netz, um sie kurze Zeit später wieder einzustellen. Pizzamanne klagt nicht an, er berichtet einfach nur, und das macht seine Filme zu einem zeitgeschichtlichem Dokument.

Der Film endet im Schweigen, und so bleibt der Zuschauer auch vor seinem Monitor zurück, schweigend, fassungslos und tief bewegt. Ein tröstliches Detail offenbart sich am Schluss: Eine Frau, der er Beistand leistete, fand er aufgrund seiner Videos als Überlebende wieder.

Das Video entfaltet seine volle Wirkung durch die subjektive Kameraperspektive. Durch Kinofilme wie Cloverfield ist dies bereits zum Stilmittel erhoben. Pizzamanne filmt so auch in seinen anderen, privaten Videos, und so ist es ein Zufall, dass hier dieses Video auf eine solche Weise entstanden ist.

Die Pizzamanne Videos dienen weniger der Aufklärung von Ursachen als dem Wissen über die Wirkung dieser Katastrophe. Sie sind so extrem verstörend, das wir sie nicht ohne Warnung zeigen wollen und nicht in diese Seite eingebettet haben. Es macht aber auch keinen Sinn, sie zu verschweigen, da sie ohnehin durch Presse, Internet-Foren und You Tube selbst längst im Gespräch sind. Wer das sehen möchte, findet es ohnehin.
Focus online über Pizzamanne
Artikel in Der Westen
Interview

Die Wahrheit
Nach mehr als einer Woche möchte ich als Herausgeber von Ruhrlink und Autor dieser Seite den journalistischen Teil mit einem kommentierenden abschliessen.

Dies war ein Ereignis, dass viele Menschen tief bewegt hat. Und das zum ersten Mal in Deutschland auch umfangreich im Internet abgebildet wurde, sei es wie hier durch Augenzeugen-Videos, sei es in der Presse wie auch in Blogs und Foren. Die Menschen sind betroffen, haben das Bedürfnis, sich zu informieren und ihre Emotionen mit anderen Menschen zu teilen und sie mitzuteilen.

Doch führt das Internet zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit?

Allen Menschen gemein ist wohl die Frage nach der Wahrheit. Doch was ist die Wahrheit?

Zwei Beispiele fielen mir auf, wie schnell Wahrheiten sich umkehren können, und Emotionen die Wahrnehmung von Wahrheit beeinflussen.

Es gibt mittlerweile Erkenntnisse darüber, das mit einer Polizeikette die Aufgangsrampe kurz vor der Eskalation geschlossen wurde und die Menschen den Platz nicht mehr verlassen konnten. Der dadurch entstehende Menschenstau entwich nach der Öffnung ungehemmt zu den Ausgängen und war so der eigentliche Auslöser der Katastrophe. Das ist auch auf dem veröffentlichten Überwachungsvideo deutlich zu sehen. Die Rampe füllt sich erst nach Auflösung dieser Kette.

Also ist die Polizei schuld? Wie könnte denn das Ganze aus deren Sicht aussehen? Menschenmassen, die sich zum Tunnel bewegen, dem Ort, der ohnehin schon kritisch gesehen wird. Es wird eng, und so muss in jedem Fall verhindert werden, dass noch mehr Menschen in diesen Bereich kommen. An den Zugängen werden die Sperren jedoch überrannt, wie wir heute wissen ist es ein Krankenwagen, der eine Öffnung schafft die nicht mehr zu schliessen ist. Wenn schon der Zugang nicht zu sperren ist, dann doch wenigstens der Ausgang. Es gibt auf You Tube ein Video mit einer skandierenden Menge "Die Mauer muss weg." Auch an anderer Stelle ist zu erfahren, wie vehement die Menschenmengen auf Einlass drängten. Hätte die Polizei auf diese "Blockadebrecher" etwa schiessen sollen? Die Wahrheit hat zwei Seiten, und eine davon ist, dass man die Menschen hätte abhalten müssen, überhaupt zur Rampe zu gelangen. Das Mittel dazu ist eine Blockade, und die hat nicht funktioniert. Also sind zumindestens diejenigen Besucher, die die Blockaden überrannten, selbst schuld?

Ein zweites Beispiel ist das der "Helfer" an der Treppe, Ordner, Polizisten und auch Besucher. Ich bin mittlerweile überzeugt davon, das die eigentliche Ursache darin zu suchen ist, das diese Treppe wie ein Ausweg erschien und alle darauf zuströmten. Wäre die Treppe konsequent geschlossen geblieben, hätte es vielleicht gar kein solches Gedrängel an dieser Stelle gegeben. Stattdessen half man den Besuchern dort sogar hinauf und signalisierte ihnen, das dies ein Ausweg sei und lockte sie geradewegs in die tödliche Falle. Alle, die dort geholfen haben, tragen also Schuld.

Doch auch hier versetze man sich in die Rolle der Handelnden. Was soll denn gemacht werden, die Not vor Augen, Frauen die ohnmächtig werden und angesichts vielfachen Leidens? Auch für die Helfer war es völlig plausibel, Menschen auf diesem Weg aus der Not zu retten.

Und so gibt es viele Möglichkeiten, "Wahrheiten" zu erkennen und zu beurteilen. Eine "Wahrheit", die heute stimmig scheint und sogar Gerechtigkeit fordert, kann morgen schon ganz anders aussehen. Das ist wie bei der Todesstrafe. Ist einmal ein Unschuldiger tot, kann man ihn nicht wieder lebendig machen. Die wurde in einem Forum auch schon gefordert. Doch kann man eine Schuld feststellen, ohne tatsächlich alle Fakten zu kennen? Wer hat denn Einblick ins komplette Material und nicht nur in die veröffentlichten Teile davon? Es gibt unzählige Dokumente, die noch nicht bekannt sind, und wer will zum jetzigen Zeitpunkt garantieren, das nicht noch eines davon Schuld wie auch Unschuld beweisen kann?

Über andere zu richten bedeutet auch eine hohe Verantwortung. Dazu müssen alle Sichtweisen einbezogen werden und alle Details bekannt sein. Öffentlich ist nur ein Teil. In diesem Land ist schon viel Unheil dadurch angerichtet worden, dass Menschen sich für eine vermeintlich richtige Sache eingesetzt haben. Aus diesem Grunde hat es nun ein System, in dem Profis arbeiten und versuchen, so etwas wie Gerechtigkeit zu vertreten. Das gelingt nicht immer, ist aber die einzige Chance, wie wirkliche Gerechtigkeit tatsächlich entstehen kann.

Jeder einzelne sollte darüber nachdenken, dass eine Meinung schnell gebildet ist und Gefühle nicht unbedingt Beweise sind. Der schreiende Mob kann auch eine Furie sein. Eine gute Sache für die man kämpft, kann schon bald etwas sein, für das man sich schämt. Alles was heute plausibel ist, kann morgen schon völlig anders aussehen. Speziell als Deutsche sollten wir das wissen. Wut ist eine verständliche Reaktion, Trauer jedoch wäre die angemessenste.

Die Justiz wird ihre Arbeit tun. Und das sollte man sie auch lassen.

Rolf Blenn

Juristische Bewertung und Forum
Umfangreicher Blog und Videosammlung